Grafenried (Lučina)

© Dr. Markus Gruber

Der auf dem Gemeindegebiet von Nemanice (Wassersuppen) liegende ehemalige Ort Grafenried (Lučina / in deutscher Umschrift auch: Lucina) ist heutzutage auch überregional bekannt: Das einst sudetendeutsche Dorf, das um 1956 weitgehend abgerissen wurde, erlebt seit etwa zehn Jahren buchstäblich eine Wiederauferstehung. Archäologische Ausgrabungen lassen die Grundstruktur des einst bedeutenden Gemeinde- und Pfarrortes erkennen, das frühere Dorfleben wird erfahrbar. Die Ortsstelle ist zu einer fürwahr einzigartigen Begegnungsstätte der deutsch-tschechischen Freundschaft geworden.

Seit jeher freilich war Grafenried ein vergleichsweise besonderer Ort, entstand es doch schon wesentlich früher als beispielsweise seine Nachbarn Wassersuppen (Nemanice), Mauthaus (Mýtnice) oder Haselbach (Lísková). Erste zuverlässige urkundliche Erwähnungen finden sich für die Jahre 1266 und 1282. Zum Vergleich: Waldmünchen, das damals den lateinischen Namen „Monacum ante nemus Bohemorum“ trug, erhielt im Jahre 1250 das Stadtrecht, während die Gründung von Wassersuppen etc. erst ins 16. Jahrhundert fällt. Grafenried war gewiss schon allein durch seine Lage von Bedeutung, da hier zwei alte Verkehrswege zwischen Bayern und Böhmen verliefen: Erstens die Reichsstraße von Nürnberg über Ast -Waldmünchen, Grafenried und den Hirschstein (Starý Herštejn) in Richtung Bischofteinitz (Horšovský Týn) und Pilsen, zweitens der sogenannte Diebssteig nach Haselberg (Lískovec) und Hirschsteinhäusl / Gibacht (Herštejnské Chálupy / Pozorka), den diejenigen benutzten, die nicht in Kontakt mit den Rittern bzw. Raubrittern der Burg Hirschstein kommen wollten. Bis 1708, beziehungsweise bis zur endgültigen neuen Grenzziehung 1766/68, lag Grafenried wie auch beispielsweise Haselbach (Lísková) auf bayerisch-oberpfälzischem Gebiet. Der Flurname Mausthurm an der heute deutsch-tschechischen Grenze in Steinlohe weist darauf hin, dass hier die alte bayerische Mautstelle war, während die böhmische im nahen Mauthaus (Mýtnice) postiert war (dieses Dorf ist heute ebenfalls nur noch eine Wüstung). Ferner scheint der Ortsname des auf deutschem Staatsgebiet liegenden Dörfleins Spielberg, vielleicht zu lateinisch "specula"  "Warte, Schauinsland ", darauf zu deuten, dass Grafenried, das immerhin auf 650 Metern Höhe liegt, auch als ein Wachposten von Bedeutung war.

Es gibt deutliche Hinweise, dass Grafenried ursprünglich an einer anderen Stelle stand, freilich nur wenige hundert Meter vom späteren Ort entfernt. Dieses 'alte' Grafenried wurde durch Kriegseinwirkung irgendwann im 16. Jahrhundert zerstört. Für das 16. Jahrhundert ist auch eine Glashütte bezeugt, die laut Karl Liebscher (Der politische Amtsbezirk Bischofteinitz, 1913) schon 1541 gegründet wurde, so dass man urteilen muss, dass in Grafenried die für den Böhmerwald einst so bedeutende Glasindustrie einen ihrer ersten Anfänge genommen hatte. Die weitere Geschichte von Grafenried verbindet sich mit mehreren Namen von Familien und Personen, die nacheinander das Gut und die Glashütte in Besitz hatten: Die Freiherren von Pelkofen; Georg Gerl (von 1637-1667); die Reichsfreiherren Werner (die Familiennamen Gerl und Werner waren bis zur Vertreibung 1946 in der Gegend recht geläufig), und schließlich Voith von Voithenberg auf Herzogau. Grafenried stand also seit jeher in Besitz von Adelsfamilien, was sich wohl auch im Selbstbewusstsein der Bewohner niederschlug, die den Spitznamen „Hofmarchler“ (abgeleitet von Hofmark) trugen. Im Jahre 1874 schließlich kaufte – die sozialen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts machten sich bemerkbar – eine aus insgesamt 78 hiesigen Bauern und Häuslern bestehende Genossenschaft das Gut Grafenried, das sich vor allem durch seine Waldungen auszeichnete. Im selben Jahr, 1874, erwarb man auch das sogenannte Schloss (trotz des Namens kein allzu großes Gebäude), das in eine Schule umfunktioniert wurde, die des Ortes nun würdig war. Eingeschult waren Anger und Seeg; dagegen Haselberg besaß eine eigene Schule, an welcher der bekannte Heimatforscher Johann Micko (1861-1945) unterrichtete.

Die Glashütte war zu diesem Zeitpunkt schon lange Vergangenheit, nachdem sich das Schwergewicht der Glasproduktion, die ja viel Holz benötigte und sozusagen dem noch nicht abgeholzten Wald immer hinterherwanderte, schon um 1710 auf die nahe gelegene Kreuzhütte (Křížová Hut') verlagert hatte. Zuvor jedoch wurden durch die stete Expansion der Grafenrieder Glashütte, die mehrere 'Filialen' hervorbrachte, im Endeffekt drei neue Dörfer gegründet: Seeg/Pila 1613,  Anger/Úpor 1619, Haselberg/Lískovec um 1690 (im Volksmund "Deutschhütten", eben nach der Glashütte benannt, die sich hier noch bis 1888 halten konnte).

Der Bau der Grafenrieder Pfarrkirche St. Georg konnte im Jahre 1775 vollendet werden; zuvor wurden die Gottesdienste in einer immer enger werdenden Kapelle abgehalten, welche für das Jahr 1688 bezeugt ist. Kirchlich gehörte Grafenried ursprünglich zu den Pfarreien Waldmünchen und  Ast, von 1782 bis 1786 kurzzeitig zur Pfarrei Wassersuppen. Erst 1808 wurde Grafenried zusammen mit Anger, Seeg und Haselberg endgültig zu einer vollwertigen Pfarrei erhoben. Vorletzter Pfarrer war Michael Ring, gebürtig im nahen Schmalzgruben (Nemaničky), letzter Pfarrer bis 1946 Josef Gerl.

Im Jahre 1789 standen in Grafenried 24 Häuser, 1839 waren es 31 mit 305 Einwohnern, 1913 schon 38 Häuser mit 289 Bewohnern. Die Volkszählung von 1930 besagt schließlich folgendes: Grafenried 41 Häuser mit 247 Bewohnern, Haselberg 33 Häuser mit 160 Bewohnern, Seeg 33 Häuser mit 230 Bewohnern, Anger 37 Häuser mit 194 Bewohnern. Liebscher nennt für das Jahr 1913 folgende Gewerbe: Zwei Bäcker, drei Bierschenken, eine Brettsäge, zwei Fleischer, einen Flaschenbierhandel, einen "Futterloherzeuger" (?), einen "Greisler" (Haushaltswaren), vier Krämer, drei Müller, zwei Schmiede, vier Schneider, einen Schnittwarenhändler, einen Spengler, eine Spezerei mit Tabaktrafik, vier Tischler, einen Wagner, fünf Wirte, einen Ziegler: Ein intaktes Dorf mit allem, was dazu gehört.

Grafenried wechselte im Lauf der Geschichte mehrmals seine 'Staatsangehörigkeit': Erst war es bayerisch, dann böhmisch und Teil der österreichischen k.u.k.-Monarchie, seit 1919 lag  es dann in der damals neugegründeten Tschechoslowakei. 1938 kam Grafenried, wie viele andere Nachbargemeinden, im Zuge der Annexion des Sudetenlandes durch das nationalsozialistische Deutsche Reich zum Kreis Markt Eisenstein, 1940 schließlich zum Landkreis Waldmünchen. Nach Kriegsende 1945 stand Grafenried unter tschechischer Verwaltung und lag fortan auf dem Staatsterritorium der ČSSR. Zusammen mit den bislang eingemeindeten Nachbardörfern Úpor (Anger), Pila (Seeg) und Lískovec (Haselberg) fusionierte die Gemeinde mit der Gemeinde Mýtnice (Mauthaus), doch bereits im Jahre 1951 hörte Grafenried offiziell auf zu bestehen. Die Verwaltung der ČSSR gab Grafenried einen zuvor nie gebräuchlichen 'Kunstnamen': Lučina, was soviel heißt wie "Wiese, Wiesengrund" - ein ominöses Vorzeichen auf das, was nun dem Ort fürwahr 'blühte': Denn die Häuser von Grafenried, das in der Grenzzone direkt am Eisernen Vorhang lag, wurden nach und nach abgerissen, um Baumaterial zu gewinnen und die Gegend zu entvölkern; im Februar 1956 erledigte schweres Gerät den Rest. Die Kirche St. Georg stand wohl noch bis um 1970. Nur wenige Häuser blieben für die Soldaten der Pohrániční stráž (PS), der Grenzwache, zunächst noch stehen, doch diese Einheit zog 1964 ab. Danach diente  Lučina in der Tat nur noch als "Wiese" für die Rinder der Kolchose Nemanice.

Nach der Grenzöffnung sahen sich die ersten Besucher nur noch mit Buschwerk und Mauerresten sowie einem verwüsteten Friedhof konfrontiert. Seit einigen Jahren aber haben die Ausgrabungen eines Enthusiasten und die Anstrengungen ehemaliger Bewohner der Ortsstelle zu neuem Leben verholfen, nicht zuletzt dank der Unterstützung auch der tschechischen Seite. Insbesondere sind die Reste des Kirchenschiffs St. Georg wieder freigelegt; dieser Platz wurde 2012 im Rahmen eines feierlichen Gottesdienstes wieder geweiht. Alljährlich findet nun hier Anfang Mai das Grafenrieder Treffen statt, das sich mittlerweile über den Kreis der ehemaligen Bewohner hinaus steigender Beliebtheit erfreut. So ist Grafenried, das in seiner bayerisch-böhmischen Geschichte zwei Mal zerstört wurde, in gewissem Sinne wieder auferstanden und zu einem Anziehungspunkt für Besucher von hüben und drüben der Grenze geworden.

 

Die Bewohner von Grafenried hatten den Necknamen "Roitaigler", "Rotaugen": Als sie im Jahre 1786 von der Pfarrei Wassersuppen selbständig wurden und eine eigene Pfarrei bekamen, weinten sich die Grafenrieder regelrecht die Augen aus...

 

Lesen Sie auch über ein 'dunkles Kapitel' den Artikel "Mord in Grafenried 1945" hier auf dieser Seite: Link

 

Hinweis zu den Fotos unten: Grafenried/Lucina ist wohl einer der am besten dokumentierten Orte. Es existieren zahlreiche historische und aktuelle Fotografien. Daher präsentiere ich unten nur einige "Goodies", also Aufnahmen, die wohl Seltenheitswert haben. Zur Vergößerung klicken Sie die kleinen Fotos unten einfach an.

Diese einzigartige Farbaufnahme zeigt Grafenried (Lučina, auch Lucina) wohl im Jahre 1955, wenige Monate vor der endgültligen Zerstörung. In der Bildmitte ist das Gasthaus Wierer (rotes Dach) erkennbar, dessen Überreste vor kurzem exhumiert wurden. Links darüber sieht man noch die Spitze des Kirchturms von St. Georg aus den Bäumen hervorragen. Links darunter wiederum einen Teil der Brauerei. Ringsum sind Ruinen zu sehen.

Klicken Sie bitte in das Bild, um es zu vergrößeren.

 

Weiteres reichhaltiges Bildmaterial von früher und heute finden Sie (einstweilen) auf www.zanikleobce.cz

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